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Mehr als eine Suppe für Bedürftige in Radovish

Die Zeit um Weihnachten und Neujahr ist für viele Menschen eine Zeit guten Essens. Ist sie auch eine Zeit, um an jene zu denken, für die selbst eine warme Mahlzeit pro Tag keine Selbstverständlichkeit ist?
 
Radovish ist eine südostmazedonische Kleinstadt mit rund 16'000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Wie so viele andere Städte des Landes hat auch Radovish eine nur schwach entwickelte Wirtschaft. Wem es irgendwie möglich ist, und wer körperlich dazu in der Lage ist, fährt jeden Tag in nahegelegene Städte, um dort Arbeit zu suchen. Immer wieder zeigt sich aber, dass vor allem Menschen über 45 oder 50 Jahre für die Mehrheit der Arbeitgeber nicht von Interesse sind. Die daraus resultierende Arbeitslosigkeit treibt viele in die Armut, aus der sie kaum noch einen Ausweg finden.
 
Etwa 30 km südöstlich von Radovish liegt Strumica. Dort hat die Evangelisch-methodistische Kirche vor vielen Jahren das «Miss Stone-Zentrum» aufgebaut. Fünfmal pro Woche beginnen die Angestellten schon am frühen Morgen, mehr als 160 Mahlzeiten für Menschen in schwierigen Lebenssituationen zuzubereiten. Diese werden dann mit einem Fahrzeug ausgeliefert. Das «Essen auf Rädern»-Programm ist weit mehr als ein effizienter Mahlzeiten-Lieferdienst. Das Gefühl, von jemandem ernst genommen und wertgeschätzt zu werden, hat für die Seele einen ähnlichen Nährwert, wie es eine vollwertige Mahlzeit für den Körper hat. Im Gespräch erkennen die Mitarbeitenden auch Notfälle und können z.B. mit Kleider-, Medikamenten- und Brennholzhilfe darauf reagieren. Aus diesem Programm ist – als Erweiterung – auch ein Hauspflegedienst entstanden, in dessen Rahmen Dutzende alte Menschen von zwei medizinischen Fachpersonen regelmässig besucht und auf dem Weg zur Wiedererlangung einer grösstmöglichen Eigenständigkeit unterstützt werden. Diese alten Menschen sind in der Regel sich selbst überlassen, nachdem ihre Kinder und Enkel weggezogen sind und es kaum staatliche Hilfsprogramme für sie gibt.
 
Sobald die Mahlzeiten für das «Essen auf Rädern»-Programm gekocht sind, beginnt die Vorbereitung von weiteren 50 Mahlzeiten, die dann nach Radovish gebracht werden. Ursprünglich waren es 18 verschiedene nahrhafte Suppen, die im Wechsel zubereitet wurden. Nach einer Anpassung in der Küche des «Miss-Stone-Zentrums» wurde es aber möglich, die Suppen durch feste Mahlzeiten zu ersetzen. Im Raum, der für die Mahlzeitenabgabe gefunden werden konnte, werden auch gebrauchte Kleider gesammelt. Neben der warmen Mahlzeit können die rund 50 Begünstigten des Programms also auch ein gut erhaltenes Kleidungsstück mitnehmen, wenn sie ein solches benötigen.
 
Diese Programme vermögen keine strukturellen Probleme zu lösen. Aber sie lassen Menschen in schwierigen Situationen Hilfe erfahren, sie wecken Hoffnung, und sie geben Mut, selber Schritte zu wagen – wie auch das Beispiel von Marica in Radovish zeigt.
 
Die heute 61-jährige Frau wurde unehelich geboren, aber nach zwei oder drei Jahren heiratete ihre Mutter den jetzigen Stiefvater von Marica, der noch lebt, während ihre Mutter verstorben ist. Als Marica fünf oder sechs Jahre alt war, wurde sie von den Kindern aus der Nachbarschaft immer wieder verspottet, dass sie keinen Vater hätte. Oft fragte sie ihre Mutter, wo ihr Vater sei, aber sie bekam nie eine richtige Antwort. Und die Vorstellung, dass ihr Stiefvater ein richtiger Vater sein könnte, stimmte überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Maricas Stiefvater misshandelte und schlug sie immer wieder, bis Marica im Alter von acht Jahren mit einer gebrochenen Wirbelsäule und einer Lähmung im Krankenhaus landete. Glücklicherweise war Marica nach einigen Wochen Therapie wieder auf den Beinen, aber mit lebenslangen Folgen. Aufgrund des damaligen Systems in Nord-Mazedonien gab es für Marica und ihre Mutter keinen Ort, wo sie Hilfe oder Zuflucht hätten finden können.
Auch in der Schule wurde Marica von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern schikaniert, und als sie nach Hause kam, erlebte sie das gleiche Mobbing von ihrem Stiefvater, sodass sich die Situation allmählich auf ihre geistige Gesundheit auswirkte. Schliesslich wurde bei ihr eine geistige Behinderung diagnostiziert.
Während all dieser Jahre wurde auch ihre Mutter ständig missbraucht, und sie litt ebenso, konnte aber bis zu ihrem Tod im Alter von 65 Jahren keinen Schutz und keine Hilfe finden.
Als Marica längst eine erwachsene Frau war, stand sie vor der Frage, wer sich um ihren alten Stiefvater von 85 Jahren kümmern würde. Sie beschloss, ihn zu pflegen und ihm zu helfen, so viel sie kann und so viel ihre geistige Behinderung es ihr erlaubt.
Die beiden leben immer noch im selben Haus, aber Marica hat ein Zimmer, das ihr als Rückzugsmöglichkeit dient. Sie denkt nie an Rache und sagt immer mit einem Lächeln, dass dies die schönste Zeit in ihrem Leben sei. Sie ist sehr dankbar für das Projekt «Warme Mahlzeit in Radovish» – sie hat dort eine warme Mahlzeit und eine Möglichkeit zur Gemeinschaft an einem Ort, wo sie sich sicher und willkommen fühlt.


Quelle: Miss-Stone-Zentrum/ Sekretariat des Bischofs Patrick Streiff