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Auf Gott vertraut statt an ihm verzweifelt

Ihr Weg führte sie von der Christuskirche in Vrbas (Serbien) zur Friedenskirche in Konstanz (Deutschland). Sie hätte angesichts der Umstände oft verzweifeln können, doch stattdessen vertraute sie auch in Zeiten der Not darauf, dass Gott ihr immer nahe sein und sie nie verlassen würde. Am 29. November 2020 verstarb sie in ihrem 99. Lebensjahr: Maria Schwertfeger.
 
Die Habsburgermonarchie des 18. Jahrhunderts verfolgte in der Vojvodina (im Norden des heutigen Serbiens) eine strategische Besiedelungspolitik. Deutschstämmige Untertanen sollten mithilfe ihrer landwirtschaftlichen und handwerklichen Erfahrung die weiten Ackerflächen ihrer neuen Heimat kultivieren. Dies gelang, und dank des fruchtbaren Bodens entwickelte sich das Gebiet zu einer eigentlichen Kornkammer.
 
In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts begann das «Blaue Kreuz» eine erfolgreiche Arbeit unter diesen «Donauschwaben», die zur Gründung mehrerer Vereine führten. Auf wundersamen Wegen kamen die sich bald recht isoliert fühlenden Angehörigen dieser Vereine in Kontakt mit einem in Wien stationierten Prediger der damaligen Bischöflichen Methodistenkirche. Durch dessen Tätigkeit und den unermüdlichen Verkündigungs- und Seelsorgedienst weiterer Männer – zu Fuss, später auch per Fahrrad oder mit einem Pferd – entstanden ab 1898 methodistische Gemeinden in der Vojvodina: in Szenttamás zum Beispiel (heute Srbobran), in Neusatz (heute Novi Sad) oder auch in Werbass (heute Vrbas). Bis ins Jahr 1904 war die Arbeit ausschliesslich deutschsprachig – dann wurde sie auch auf die ungarischsprachige Bevölkerung ausgedehnt.
 
Die Zeit des Ersten Weltkriegs war für die Gemeinden eine schwere Prüfung. Ein Prediger nach dem anderen wurde aufgefordert, in den Heeresdienst einzutreten, teilweise nach nur wenigen Monaten kirchlicher Arbeit. In dieser Zeit wirkte mit Oswald Bickel auch ein Schweizer in Vrbas und Umgebung. Ans Aufgeben dachte jedoch niemand – im Gegenteil. Um die Kriegsnot zu lindern, wurde der Entschluss gefasst, in Srbobran ein Waisenheim zu eröffnen – ein Vorhaben, das 1916 umgesetzt wurde. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Arbeit neu organisiert, und schon bald breitete sie sich weiter aus. Und wovon schon acht Jahre zuvor geträumt worden war, wurde 1922 Realität: Die Christuskirche in Vrbas wurde durch Bischof Blake eingeweiht. Dieser war es auch, der die am 15. Mai 1922 geborene Maria Schwertfeger (damals noch Egri) am 28. Mai 1922 in der Christuskirche in Vrbas taufte. Marias Mutter Katharina führte dann während elf Jahren die Hauswirtschaft im Waisenheim in Srbobran, nachdem ihr Mann Stefan im Alter von nur 26 Jahren völlig überraschend gestorben war. So verbrachten Maria und ihre Schwester Rosel die Kindheit und Schulzeit in diesem Dorf. Als Maria eine höhere Schule besuchen und anschliessend eine kaufmännische Ausbildung machen konnte, zog die Familie nach Novi Sad.
 
Dann kam der Zweite Weltkrieg… Nachdem der jugoslawische Vielvölkerstaat 1941 von Hitler-Deutschland überrollt worden war, hatten die «Donauschwaben» das serbische Volk gegen sich. Maria lernte in dieser schwierigen Zeit den jungen, aus Königsberg (heute Kaliningrad) stammenden Soldaten Heinrich Schwertfeger kennen. Nach kurzer Zeit heirateten die beiden – eine Kriegshochzeit ohne Feier. Ihr gemeinsamer Weg war jedoch nur ein kurzer – bald musste Marias Mann wieder an die Front und fiel 1943 in den Partisanenkämpfen in Bosnien. Und im Herbst 1944 wurde deutlich, dass die in der Vojvodina lebenden Volksdeutschen von der heranrückenden russischen Armee bedroht waren. Drei Tage vor deren Ankunft kam die dringende Empfehlung, die seit fast 200 Jahren bewohnte Heimat schnellstmöglich zu verlassen – auf welchem Weg auch immer. Es blieb keine Zeit für lange Worte des Abschieds von ihren Glaubensgeschwistern – Maria, Rosel und ihre Mutter packten vielmehr in grosser Eile, was sie tragen konnten, verliessen in der Morgendämmerung ihre Heimat und fuhren einer unbekannten Zukunft entgegen. In Belgrad konnten sie dank Marias durch ihre Heirat erworbenen deutschen Staatsbürgerschaft einem Fronturlauberzug, der, von Griechenland herkommend, die letzten deutschen Verwundeten in die Heimat transportierte, zusteigen. Fünf Tage und Nächte schleppte sich der alte Zug mit vielen Aufenthalten voran, von den vorrückenden russischen Truppen immer wieder beschossen. Zwischen Budapest und Wien sagte ihre Mutter zu den beiden Töchtern: «Alles, was vergänglich ist, haben wir verloren. Aber das Wichtigste und Grösste, unser Gott, ist bei uns. Er wird uns führen und bewahren, wie er uns bisher begleitet hat. Er ist und bleibt der Vater der Witwen und Waisen.»
In Wien trennten sich die Wege. Katharina Egri und Rosel reisten nach Konstanz, wo Katharinas Schwester wohnte. Maria fuhr zu ihren Schwiegereltern nach Königsberg. Doch als 1945 die russischen Truppen näher rückten, musste sie wieder fliehen: per Lastwagen, in überfüllten Zügen, mit dem Fahrrad – Tag und Nacht, bei Hunger und Kälte, immer die Möglichkeit vor Augen, unvermittelt beschossen zu werden.

Christuskirche der EMK in Vrbas

Maria kam schliesslich völlig erschöpft, aber zutiefst dankbar in Konstanz an, wo sie ihre Mutter und ihre Schwester wieder traf. Die drei erhielten eine Wohnung in einem heruntergekommenen Bauernhaus ausserhalb von Konstanz. Die Nachbarn schlossen sofort ihre Fensterläden – sie fürchteten, vom Wenigen, das sie hatten, an diese ausgemergelten Neuankömmlinge abgeben zu müssen… Im Wald suchten die Frauen Holz und Tannenzapfen, pflückten Beeren, sammelten Bucheckern zur Ölgewinnung und gingen Ähren nachlesen oder Kartoffeln. Auf dem Küchentisch lagen immer die aus der Heimat mitgebrachte Bibel und das Gesangbuch, und wenn sie manchmal nichts zu essen hatten, schöpften sie aus dem Singen und Lesen aus diesen Büchern Kraft. Dies drang durch das offene Fenster nach draussen, was die Neugier der Nachbarn weckte: «Wie könnt ihr singen, wo ihr so viel Elend und Not erlitten habt?» Bald wagten sich die Nachbarn auch ins Haus und setzten sich an den Küchentisch, auf dem oft nur eine Mehlsuppe stand. Dies waren die ersten Hauskreise – die drei Frauen sprachen einfach von ihrem Glauben und erzählten, wie Gott sie beschützt und versorgt hatte.
 
Weil sie von der Unterstützung des Sozialamtes kaum leben konnten, begannen sie, mit Stoffresten Puppen zu basteln und diese zu verkaufen. Auch die Nachbarskinder erhielten zu Weihnachten welche. Dies öffnete viele Herzen, und die drei Frauen fanden Freunde in der Dorfgemeinschaft. Ihr grösster Wunsch war aber, eine Gemeinde zu finden. Sie wohnten nicht nur in unmittelbarer Nähe zur Schweiz – da die Methodistenkirche im damaligen Jugoslawien Teil des «Genfer Sprengels» war (und es noch heute ist), und da die drei Frauen den Bischof und mehrere Pastoren aus der Schweiz von Besuchen an den Jährlichen Konferenzen kannten, suchten sie den Kontakt zu ihnen. Und trotz praktisch undurchdringlicher Grenze stand eines Tages plötzlich Prediger Baumann aus Winterthur vor dem verkommenen Bauernhaus ausserhalb von Konstanz. Gerne hätte er Essbares und Kleider mitgebracht, aber das war nicht erlaubt. Nur eine halbe Flasche Rotwein und einige Brötchen, die von der Frau des Predigers ausgehöhlt und mit Butter gefüllt worden waren, hatten die Grenze passiert. Damit feierten die vier Abendmahl. Jesus war spürbar in ihre Mitte gekommen und hatte an diesem armseligen Ort in und mit den Frauen ein neues Werk begonnen. Prediger Baumann organisierte darauf einen Besuchsdienst seiner Ostschweizer Kollegen, und so wurden zuerst in der Küche des Bauernhauses, später dann in den Nebenräumen unterschiedlicher Gasthäuser mit einer wachsenden Besucherzahl Sonntags-Gottesdienste gefeiert. Bald gehörten auch ein Jugendkreis und eine vielseitige Arbeit mit Kindern zur methodistischen Gemeinde in Konstanz. Und immer waren Maria und Rosel treibende Kräfte. Es ging ihnen nicht einfach um einen Aktivismus, aber ihr Herz war so erfüllt von der Liebe und Güte Gottes, dass sie gar nicht anders konnten, als davon zu erzählen.
 
Maria Schwertfeger vergass nie die Heimat, die sie mit 22 Jahren verlassen musste. Genauso wenig wie die lebendigen Gemeinden – und die Dortgebliebenen, die in unvorstellbar grosser Zahl in Hungerlagern umgekommen oder grausam ermordet worden waren. Und wenn es auch so ausgesehen haben mochte, dass die Saat des Evangeliums vergebens ausgestreut worden war, so war sie doch nur aufbewahrt und ging Jahre und Jahrzehnte später auf. In Serbien, aber auch in Konstanz, Kanada und den USA, wohin sie die Geflüchteten aus der Vojvodina hingetragen hatten.
 
Die Erfahrung, dass die Botschaft der Auferstehung und des Lebens stärker ist als der Tod, liess Maria Schwertfeger unerschütterlich auf Gott vertrauen, trieb sie an, gab ihr Kraft – und machte sie zu einem Werkzeug des Friedens. Immer wieder reiste sie nach Serbien und besuchte dabei auch regelmässig die Roma-Familie, die im nach dem Zweiten Weltkrieg geräumten Waisenheim von Srbobran wohnte. Dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts, auch dank der grosszügigen Unterstützung der alten Werbasser, die Christuskirche in Vrbas renoviert werden und in neuem Glanz erstrahlen konnte, war für sie Grund zu grosser Freude und Dankbarkeit – und Ausdruck der grossen Treue Gottes.
 
Sie war eine Beterin und blieb in regelmässigem Kontakt mit den Pfarrerinnen und Pfarrern der EMK in Serbien – um sie zu unterstützen und zu ermutigen. In einem Gespräch liess sie einmal durchblicken, dass sie nur wenig für sich brauche, damit sie umso mehr nach Serbien senden könne. Sie sagte: «Wenn mich unser himmlischer Vater ruft, werde ich mit Freude nach Hause gehen.» Dann fügte sie mit einem verschmitzten Lächeln hinzu: «Aber ich lebe auch gerne noch ein wenig, damit ich mit meiner Rente die Geschwister in Serbien unterstützen kann.»
 
Maria Schwertfeger hätte verzweifeln können – an Gott und an den schwierigen Zeiten, die sie durchlebte. Aber in der Gewissheit, dass ihr Erlöser lebt, wagte sie es immer wieder neu, Gott zu vertrauen – und wurde durch ihre grosse Glaubwürdigkeit zur Ermutigung und zum Segen für viele.
 
Urs Schweizer, Assistent des Bischofs Patrick Streiff