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Vor 25 Jahren wurde die Tschechoslowakei aufgelöst

Am 1. Januar 1993 wurde die Tschechoslowakei aufgelöst. Wie es dazu kam, und was das für die Evangelisch-methodistische Kirche bedeutete, beschreibt Bischof i.R. Heinrich Bolleter in einem Blogbeitrag.

Die politische Teilung
Die Tschechoslowakei war 1918 aus dem Zerfall der Donaumonarchie gegründet worden. Sie war und blieb ein künstliches Gebilde, denn die Tschechen und die Slowaken hatten zuvor in unterschiedlichen Staaten gelebt. Während die Tschechen schon im 19. Jahrhundert ein Bürgertum mit einem ethnisch-nationalen Bewusstsein gebildet hatten, blieben die Slowaken geprägt von der ungarischen Vorherrschaft in der Donaumonarchie. In der neuen Tschechoslowakei fühlten sie sich nun von den Tschechen bevormundet und benachteiligt. Sie blieben in der Opferrolle. 1968 hat die Tschechoslowakei eine Föderation mit zwei Parlamenten in Prag und Bratislava geschaffen, aber in der Realität blieb alle Macht beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in Prag.
 
Mit der politischen Wende von 1989 schien für die Slowaken der Zeitpunkt gekommen, mehr Autonomie einzufordern. Die Parlamentswahlen von 1992 in Bratislava und Prag verstärkten die regionalen Unterschiede. Vaclav Klaus in Prag strebte eine an Europa orientierte Reform mit einer wirtschaftsliberalen Ausrichtung an, während Vladimir Meciar in Bratislava eine nationalistische Linie verfolgte. Im August 1992 verkündete Meciar einen Ausstieg aus der Föderation der Tschechoslowakei auf den 1. Januar 1993. Bald wurde deutlich, dass Prag den armen, agrarisch geprägten Föderationspartner gerne fahren liess. Dabei wurden auch Schritte unternommen, welche Prag weitere Vorteile bringen sollten. So wurde verlangt, dass das slowakische Eigentum, welches in der Konföderation in Prag registriert war, nach Bratislava übertragen werden musste, weil es ansonsten von Prag konfisziert werden könnte. Die Verhandlungen im Blick auf die Beendigung der Föderationszahlungen aus Prag fielen nicht zum Vorteil der Slowakei aus. So verlor die Slowakei wichtige Transfers aus Prag. Die grosse Ethnie der Roma wurde in den tschechischen Medien aufgefordert, sich in Prag registrieren zu lassen. Auch das sollte bis zum 1. Januar 1993 erfolgen. Wer sich nicht registrieren liess, wurde in die zukünftige Slowakei abgeschoben. So sicherte man sich in Prag einen guten Start in die neue Zeit. Die Slowakei hingegen hatte einen bedenklich schlechten Start in die Zukunft des neuen Europa. Die schwache Industrie war früher durch die Sowjetunion aufgebaut worden und darum nicht mehr konkurrenzfähig. Sie geriet wirtschaftlich ins Abseits. Die Arbeitslosigkeit zeigte neue Spitzenwerte. 1998 wurde Meciar abgewählt, und die Slowakei schaffte es gerade noch auf den Weg in die EU und die Nato. Die damit angestossenen Reformen führten zu Neuinvestitionen im Land. Der Arbeitsmarkt erholte sich, und das Sozial- und Gesundheitswesen wurde auf eine neue Grundlage gestellt.
 
Der Weg der Evangelisch-methodistischen Kirche
Vor und nach der Wende von 1989 bildeten die Gemeinden in der Tschechoslowakei eine gemeinsame Jährliche Konferenz (Synode) mit einem Hauptquartier in Prag. Dieses Kirchenparlament war voll und ganz mit internen Problemen beschäftigt. Es ging um eine Auseinandersetzung zwischen einer charismatischen Fraktion und einer traditionalistischen methodistischen Gruppe. Die 90er-Jahre waren deshalb dieser Herausforderung und dem Thema der neuen Dienstmöglichkeiten nach der politischen Wende von 1989 gewidmet. Die Kirche lebte zudem von staatlichen Zuschüssen, welche in der kommunistischen Zeit vor allem zur staatlichen Kontrolle der Gemeinden und der Pfarrerschaft dienten.
 
Die im Sommer 1992 angekündigte Teilung der Tschechoslowakei erforderte nun aber ein rasches gemeinsames Handeln. Sollte die Kirche entlang der neuen staatlichen Grenzen geteilt werden? Musste eine zweite Provisorische Jährliche Konferenz gegründet werden? An einer 1992 in Prag stattfindenden «Weihnachtskonferenz» wurde entschieden, dass die Kirche in beiden Ländern eine Jährliche Konferenz bleiben würde. Gemeinsam wurde festgehalten: Als Evangelisch-methodistische Kirche sind wir keine «nationale» Kirche. Unsere Zusammengehörigkeit macht vor staatlichen Grenzen keinen Halt.
 
Allerdings wurde es als notwendig angesehen, in beiden neuen Staaten auf eine staatliche Anerkennung sowie eine deutliche Registrierung des kirchlichen Eigentums hinzuarbeiten. Dazu wurden zwei methodistische Distriktskonferenzen gegründet, an welche Rechte und Pflichten der Leitung und Verwaltung delegiert sind. Die beiden kirchlichen Zentralen sind in Bratislava und Prag. Durch diese dringlichen Beschlüsse der ausserordentlichen Jährlichen Konferenz wurde die Zukunft der Evangelisch-methodistischen Kirche in Tschechien und in der Slowakei gesichert.
 
Es bleibt anzufügen, dass die EMK in der Slowakei in der Folge viel Eigenverantwortung übernahm und dadurch gestärkt wurde. Im Jahr 2007 beherbergte sie mutig das Europäische Methodistische Festival in Bratislava, das zu einem vollen Erfolg wurde.
 
Vom Umgang mit dem emanzipatorischen Nationalismus 
In meiner Bischofsbotschaft vom Jahr 1993 widmete ich einen Abschnitt der neuen Identitätsfindung der Staaten und Volksgruppen im ehemaligen Osteuropa. Die Teilung der Tschechoslowakei hatte genau mit dieser Problematik zu tun. Die Slowakei konnte sich in ihrer Opferrolle einem «emanzipatorischen» Nationalismus nicht entziehen. Unter emanzipatorischem Nationalismus sind die Kräfte nationaler Tradition, Sprache, Kultur und Religion zu verstehen, welche sich als Gegeneffekt zur langjährigen Repression und Nivellierung unter dem kommunistischen Regime angestaut hatten. Wir müssen diesen Staaten oder auch ihren Nationalkirchen helfen, in dieser kritischen Phase klar zu unterscheiden zwischen emanzipatorischem und repressivem Nationalismus. Sie müssen in diesen Prozessen ihre Rolle neu definieren. Es gilt auf dem Hintergrund eines christlichen Verständnisses von Freiheit den Nationalismus nicht nur zu zügeln, sondern die Unterschiede zwischen Nation und Gesellschaft wahrzunehmen, und den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft zu unterstützen – einer Gesellschaft, welche die Rechtsgleichheit aller Bürger betont und die Minderheiten schützt. Daran arbeiten wir noch – in Tschechien und in der Slowakei sowie in anderen Ländern Mittel- und Südeuropas.
 
Autor: Bischof i.R. Heinrich Bolleter


Foto: Stimmenzähler V. Malac und V. Zak an der ausserordentlichen Jährlichen Konferenz 1992