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Wie lange noch?

Bald sind es 40 Monate her, seit die russischen Streitkräfte die Ukraine überfielen und den zuvor schon während einiger Jahre schwelenden Krieg eskalieren liessen. Seit längerer Zeit werden zahllose Gespräche von Politikerinnen und Politikern geführt – wie zumindest einmal ein Waffenstillstand herbeigeführt werden könne, oder welche Waffenlieferungen nötig seien – das Leiden und Sterben in der Ukraine jedoch geht immer noch weiter, und die Sehnsucht nach einem gerechten Frieden ist bis heute eine ungestillte Sehnsucht.
 
Als in den Tagen und Wochen nach Beginn des Angriffskriegs Millionen von Menschen aus der Ukraine flohen, waren Gemeinden und Einzelpersonen der Evangelisch-methodistischen Kirche (EMK) in den unmittelbaren und indirekten Nachbarländern zur Stelle und stellten ihre Gebäude als Orte der Zuflucht zur Verfügung. Mit einem grossen Engagement sorgten sie für die vielen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten: Lebensmittel, Kleider, medizinische Versorgung, Unterbringung, Hilfe für die Weiterreise in eine unbekannte Zukunft. Immer wieder wurden auch Hilfstransporte in die Ukraine organisiert – mit Lebensmitteln, Hygieneprodukten und Decken beispielsweise, aber auch mit Geräten für Spitäler
 
Auch nach mehr als drei Jahren sind die EMK-Gemeinden in den Nachbarländern der Ukraine aktiv – auch wenn sich die Situation verändert hat. Einerseits sind es nicht mehr so viele Menschen, die aus der Ukraine fliehen. Und andererseits haben viele Menschen, die in Polen, Tschechien, Ungarn oder Rumänien angekommen und geblieben sind, längst grosse Schritte zur Integration in die jeweilige Gesellschaft gemacht.
 
Pastorin Jana Křížova aus Prag (Tschechien) beispielsweise sagte kürzlich: «Viele aus der Ukraine geflüchtete Menschen haben längst eine Arbeit gefunden und auch eine Wohnung. Sie werden zwar noch vom Staat unterstützt, materielle Hilfe von der EMK benötigen sie aber nur noch in Ausnahmefällen. Wir sind als EMK in Tschechien in der Lage, die diesbezüglich benötigte Hilfe mit eigenen Ressourcen bereitzustellen.» In Rumänien und in Ungarn ist die Situation ähnlich. Am grössten ist der Bedarf an Unterkünften in Polen – allerdings ist die Zahl der dort registrierten Geflüchteten auch eineinhalbmal so gross wie jene in Tschechien, Rumänien und Ungarn zusammen. Von den 14 EMK-Gemeinden, die in Polen Menschen untergebracht und geholfen haben, sind einige nach wie vor aktiv. Szarlota Kamińska, die Koordinatorin dieser Arbeit in Polen, sagte: «Auch wenn die Intensität des Engagements für die aus der Ukraine geflüchteten Menschen abnimmt, muss mit Nachdruck betont werden, dass die Unterstützung für sie und unser Engagement weiterhin erforderlich sind.»
 
Dessen ist sich auch der polnische EMK-Pastor Jarosław Bator bewusst. Seit längerer Zeit fährt er monatlich in die Ukraine. Anfänglich lag der Fokus auf materieller Hilfe für Bedürftige im Nordosten des Landes. Inzwischen besteht sein Ziel darin, die Kraft und den Trost des Evangeliums mit den Menschen zu teilen. Er predigt regelmässig an zwei Orten in der Ukraine, einer davon in einem Krankenhaus. Ausserdem trifft er sich mit seinen Leuten einmal wöchentlich online.
 
Distriktssuperintendent Rares Calugar aus Rumänien erwähnt ebenfalls den Wechsel vom Nothilfe-Modus zu längerfristigen Integrationsbemühungen: «Unsere Arbeit mit den aus der Ukraine geflüchteten Menschen geht weiter. In Cluj-Napoca haben wir ein ukrainisches Zentrum, das mehr als 100 Kindern und Jugendlichen einen Ort für verschiedene ausserschulische Aktivitäten wie Kunst, Musik, Tanz usw. bietet. Ausserdem werden dort jetzt auch Rumänisch-Kurse für Erwachsene angeboten. In Sibiu setzen wir das Projekt „Aufsteigen“ fort, ein Nachmittagsprogramm für Jugendliche, in dem ukrainische und rumänische Jugendliche zusammenkommen, um Lebenskompetenzen zu erlernen und Zeit für ihre persönliche Entwicklung zu haben.»
 
Aber auch er weiss um die Notwendigkeit einer Begleitung, die über die Bereitstellung materieller Hilfe und die Unterstützung von Integrationsmassnahmen hinausgeht. Einerseits zeigt sich dies darin, dass Menschen aus der Ukraine beispielsweise längst zur EMK-Gemeinde in Cluj-Napoca gehören. Andererseits war «Faces of Courage» für Frauen aus der Ukraine ein weitherum beachtetes Projekt im Bereich der Trauma-Heilung. Beim jüngsten Projekt, das in einer Kooperationspartnerschaft mit verantwortlichen Personen aus Politik und Kirchen entwickelt wurde, handelt es sich um die Produktion der ersten wasserfesten Bibeln für das Militär in der Ukraine, um jenen, die täglich den Schrecken des Krieges ausgesetzt sind ein «Symbol der Widerstandsfähigkeit und Hoffnung» zu geben. Natürlich wäre es auch möglich, diese Bibeln über eine Anwendungs-Software zur Verfügung zu stellen – weil aber eine Internet-Verbindung die Soldaten zu einem leichten Ziel für Drohnenangriffe machen kann, setzen die Projektverantwortlichen auf eine besondere Form einer gedruckten Bibel in einer modernen ukrainischen Sprache.
 
Auch den Verantwortlichen der EMK in Tschechien ist das Engagement für Menschen in der Ukraine mit posttraumatischen Belastungsstörungen ein prioritäres Anliegen. Sie unterstützen die Durchführung von jeweils zehntägigen Rehabilitations-Retraiten, in denen insbesondere Witwen von gefallenen Soldaten und Waisenkinder die Hilfe erhalten, die sie benötigen. Diese Hilfe umfasst Erholung, psychologische und psychotherapeutische Begleitung, die durch entsprechende Fachleute sichergestellt wird, sowie geistliche Angebote wie Gottesdienste und Seelsorge. In den Jahren 2023 und 2024 wurden von der Partnerorganisation der EMK in Tschechien insgesamt 24 solche Retraiten für jeweils rund 50 Personen durchgeführt – für das Jahr 2025 sind weitere 20 geplant. Ein Hinweis darauf, wie gross die Not ist…
 
Daneben unterstützt die Kirche nach wie vor auch Krankenhaus im Westen der Ukraine, das zwar im Bereich der Chirurgie eine wichtige Versorgung der Bevölkerung sicherstellt, das aber auch Rehabilitationsmassnahmen ermöglicht, die weit darüber hinausgehen.
 
Inzwischen sind in manchen Ländern Europas – nicht nur in den direkten Nachbarländern der Ukraine – Menschen aus der Ukraine ein fester Teil der dortigen EMK-Gemeinden. Oder sie bilden ihre eigenen Gemeinden und treffen sich in Räumlichkeiten von EMK-Gemeinden. Die sicher «speziellste» Gemeinde diesbezüglich ist die Russischsprachige EMK-Gemeinde in Prag (Tschechien), die aus Menschen russischer und ukrainischer Herkunft besteht. Eduard Holtman, Mitglied dieser Gemeinde, sagte dazu: «Wir singen auf Russisch und auf Ukrainisch. Ich versuche, zwischen diesen zwei Sprachen abzuwechseln, sodass die Menschen sehen, dass wir in Christus Frieden haben können.»
 
Wie erwähnt: Noch ist die Sehnsucht nach einem gerechten Frieden in der Ukraine eine ungestillte Sehnsucht. Und die Frage «Wie lange noch?» belastet, ermüdet, quält. Aber immer wieder werden – gerade auch durch den engagierten Dienst von Menschen der EMK in Polen, Tschechien, Ungarn und Rumänien – Zeichen der Hoffnung sichtbar. Eine Hoffnung, die tragfähig ist, die Zuflucht und Geborgenheit bietet, die dem Gedanken an eine lebenswerte Gegenwart und Zukunft Raum gibt.
 
Autor: Urs Schweizer, Assistent des Bischofs Stefan Zürcher, Zürich (Schweiz)